Letztens teilte ein Kontakt auf LinkedIn seine Liste der aussterbenden Wörter, die wir unbedingt retten müssen. Ja, ich weiß, nur ein weiterer uninteressanter Post auf der Plattform. Neben belanglosen Wörtern, die ich nicht als „bedroht“ oder interessant ansehe, listete er das Wort „kess“.
Da dachte ich nach: Was fällt mir zum Adjektiv „kess“ ein?
„Kess“ stammt für mich aus einer Zeit, in der mich alte, weiße Männer „Fräulein Bärbel“ nannten, was mich bereits als 10-Jährige gestört hat. Eine Bärbel war und ist für mich steinalt und langweilig, das bin ich nicht. Genau wie „Babsi“, das finde ich ganz, ganz schrecklich, klingt nach „Wendy“ oder sonstigen Mädchenromanen. Oder wenn ich in der Deutschschweiz zu „‘s Bärbeli“ werde, weil Diminutive und Kosenamen so schön sind. Nein, sind sie nicht. Ich heiße Barbara. Punkt. Zurück zu „kess“.
Kess – Etymologie
Meine Lieblingsquelle DWDS verortet „kess“ im Jiddischen:
„Das Adjektiv stammt aus dem verhüllenden Kurzwort jidd. chess, der Bezeichnung für ch, den Anfangsbuchstaben von jidd. chochom ‘klug, weise, gelehrt’. Es dringt aus der Gaunersprache in die Umgangssprache von Berlin und gewinnt von dort aus in der 1. Hälfte des 20. Jhs. allgemeine Verbreitung.“
„Kess“ war ein Kompliment, ein Lob, bis es im Soziolekt der Randgruppen, unter dem sich damals „Prostituierte, Bettelnde, fahrendes Volk und Kriminelle“ wiederfanden, die Bedeutung änderte – und vermeintlich anders besetzt wurde. Das Rotwelsche hat uns in seiner Durchmischung unterschiedlicher Sprachen viele schöne Wörter gebracht: ausbaldowern, Sauregurkenzeit und Wolkenschieber gehören dazu. Und „kess“.
Kein Wunder, dass Marlene Dietrich 1929/30 in dem Film „Der blaue Engel“ sang: „Ich bin die kesse Lola, der Liebling der Saison.“ „Kess“ schaffte es von der „Unterwelt“, der „verruchten Tingeltangel-Sängerin“ zum Modewort, also in die Zeit meiner Oma, zu deren Wortschatz es gehörte. Bis die Nazis kamen und „kess“ als Wort der „Ghettosprache“ anprangerten, weil es jüdischen Ursprungs ist. Unbeeindruckt wurde es weiterhin benutzt, und blühte in den 1950ern auf. Wie damals so oft, wurde es verniedlicht. Meine Oma mochte Pippi Langstrumpf, bezeichnete sie aber gerne als „kesses Mädchen“ und mich auch. Ganz sicher war ich mir nie, ob „kess“ gut oder schlecht ist.
Kess – Bedeutungen
„Kess“ kann viele Bedeutungen haben. Je nach Sichtweise changieren sie zwischen positiv und negativ: lebenslustig, unbekümmert, ungezwungen, frech, neckisch, fesch, flott, aufreizend, ungeniert, kokett, vorlaut, dreist, vorwitzig, unverschämt, respektlos sind einige Beispiele, die die Bandbreite zeigen. „Kess“ ist nicht fassbar – ist es daher gut, schlecht, etwas dazwischen oder was? Ist eine „kesse Lippe riskieren“ eine gute Sache? Und was ist den Ausdrücken wie „kesser Vater“, was heute einer „Butch“ entspricht. Diskriminierung oder nicht? „Ein kesses Mädchen“ findet sich im Kreuzworträtsel als „Göre, Range“ wieder. Sind nur Frauen kess? Und sagt das überhaupt noch jemand?
Damit sind wir bei meinen Schwierigkeiten mit dem Wort. Wenn mich jemand kess nannte oder nennt, wie meint er oder sie es? Bin ich ein offener Mensch, der mutig ist? Oder eine rotzige Rothaarige mit elend großer Klappe? Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht einordnen. Und deshalb verwende ich es nicht.
Vielleicht ist es auch gut, wenn manche Wörter sang- und klanglos aussterben. Und durch „mega“, „geflasht“ und „nice“ ersetzt werden. Wobei das eine andere Geschichte, nein, a different story ist.
Foto: Dorothee Bächle