Ich schreibe gerne. Ich arbeite gerne. Ich mag es, Konzepte zu entwickeln, redaktionell Fäden zusammenzuführen, strategisch zu beraten. Ich mag es crossmedial und multimedial. Ich bin flexibel, offen und spontan.
Aber: Abgesehen von uninteressanten, langweiligen Angeboten, die mich als „KI-Tutor“ sehen, bekomme ich (für meinen Geschmack) zu oft Anfragen nach Tiktok-Content und Filmchen auf anderen Social-Media-Kanälen – für die Zielgruppe der unter 25-Jährigen. Paradoxerweise erwarten Unternehmen und Agenturen eine Senior-Texterin oder erfahrene Redakteurin, die Konzepte, Botschaften, Kampagnen etc. entwickeln und umsetzen soll und ganz frisch von der Uni kommt – wie immer das gehen soll. Oder ich soll in ein „junges Team“ passen, in dem ich die einzige bin, die eine „echte“, also ausgebildete Redakteurin ist und auch seit Jahren als Online-Redakteurin/Redakteurin arbeitet. Wie soll ich Konzepte entwickeln, wenn ich zuerst erklären muss, was ein Konzept ist, was ein Konzept ausmacht, was es kann, was nicht etc.? Dann bilde ich Menschen aus! Das kann ich machen, ist aber nicht meine Aufgabe, jedenfalls nicht laut Jobangebot. Dann aber Texten! Hm, wie soll in einem Duktus schreiben, den ich nicht bieten kann und vor allem nicht will.
Mein größtes „Manko“: Ich will mich nicht auf Biegen und Brechen anpassen. Ich will mich nicht einpassen müssen. An eine Sprache, die nicht meine ist. Warum soll ich mir Werbung für die Zielgruppe 19 bis 29 ausdenken und texten? Die Chancen, dass das daneben geht, stehen ziemlich gut. Bei aller Eloquenz und sprachlicher Gewandtheit, die ich mir zuschreibe – kann ich glaubwürdig und authentisch sein, wenn ich versuche, „Jugendsprache“ zu verwenden?
Und andersrum? Können Menschen unter 30, unter 20 das, was Werbesprache ausmacht? Mich ansprechen, mich abholen, mich verführen, mich begeistern, Schauen wir mal!
Die Realität: Newsletter, Werbung, Werbeanzeigen, Online-Shops und sonstige Werbeformen
Der Drogeriemarkt will mir „stylische Looks und Pflegeessentials für meine Beauty-Routine“ andrehen, meinen „Glow kitzeln“, mir meinen „persönlichen Skincare-Cocktail“ kredenzen oder preist „diskrete Inkontinenzeinlagen“ an. Mit dem „Gamechanger „Fake Freckles“ soll ich meine vorhandenen Sommersprossen übermalen und „sichtbare Makel der reiferen Haut gekonnt überdecken“. Ich fühle mich von „Gamechangern der Morgen- oder Abend-Routine“ gar nicht angesprochen, ich öffne ungeschminkt und im Schlafanzug dem Postboten und gehe auch so zur Mülltonne. Zudem ist ein „Gamechanger“ für mich keine Creme, keine Farbe, keine Klamotten, sondern eine wirklich bahnbrechende Veränderung oder Idee. Das große „Anti-Aging-Programm“ lasse ich aus und für „Slow Aging“ bin ich wahrscheinlich eh zu spät dran.
Klamotten und Kleidung? Da sieht es nicht besser aus: Ich habe die Wahl zwischen „lässigen Sport-Styles“, „sweeten Alltagsoutfits“ und „kaschierenden, zeitlosen Damenbasics und Figurschmeichlern“ in schrecklichen Farben, altersbedingte Vorschläge tendieren zu Beige, Bleu und Rosé. Leute, was soll das? Ich mag nicht diesen und jenen „Style“ shoppen und frage mich manchmal, was „Power-Styles in Feelwell-Colours“ sein sollen.
Die Sprache: Ich habe letztens eine Shampoo-Flasche umgedreht, dort steht: „Hi! Ich bin dein Shampoo und so pflege ich dein Haar!“ und „Pflege, was dir wichtig ist.“ und „Denk daran, mich zu recyceln, wenn ich leer bin!“. Entweder ist alles „easy-peasy“ oder ich fühle mich betreut, als ob mein geistiger Verfall längst passé ist und ich älter bin als meine Oma je wurde.
Ich schreibe und spreche in ganzen Sätzen, was mich „oldaged“ macht, teilt mir ein 16-Jähriger (der Sohn eines Freundes) mit. Er findet es ganz schlimm, wenn Menschen über 25 Sachen wie „mega“ oder „cringe“ von sich geben und ihm ist es sehr peinlich, wenn sie „geflasht“ sind. „Safe“ bin ich seiner Meinung sowieso nicht, aber „based“ vielleicht. Er versteht nicht, warum ich meine, er ist mir ebenfalls zuweilen peinlich und Generationenkonflikte sind natürlich, beruhen aber auf Gegenseitigkeit. Jede Generation meint, sich an den vorherigen abarbeiten zu müssen und das ist auch gut so.
Ich habe nichts gegen Anglizismen – wenn sie gut sind! Aber alles mitmachen? Eine Sprachform für alle? Keine Vielfalt, dafür sprachlich alle über einen Kamm scheren? Mainstream und 08/15? Vermeintlichen Erwartungen entsprechen?
Ja, werdet ihr nun leicht verwundert sagen, ich bin mit über 50 auch nicht die Zielgruppe – aber warum eigentlich nicht?
Die Altersverteilung in Deutschland
Bei der Bundestagswahl 2025 sind mehr als 40 % der Wahlberechtigten über 60 Jahre alt. Schlüsseln wir das mal auf:
- Ca. 23 % sind 70 Jahre und älter,
- fast 19 % sind 60 bis 69 Jahre alt,
- 16,5 % zwischen 50 und 59 Jahre alt,
- etwa 14 % 40 bis 49 Jahre alt,
- knapp 14 % sind 30 bis 39 Jahre alt,
- ca. 11 % 21 bis 29 Jahre alt
- und nicht einmal 2,5 % sind 18 bis 20 Jahre alt.
Was fällt auf? Die wenigsten Menschen in Deutschland sind jünger als 30, die meisten 50 Jahre alt und älter. Das ist vielleicht nicht schön und nicht gut, aber eine Tatsache. Und die demografische Entwicklung bleibt nicht stehen, die Alterung der Gesellschaft wird noch ca. die nächsten 15 bis 20 Jahre anhalten. So sie denn wählen gehen, entscheiden Menschen über 50 die Wahlen.
Wenn „die Alten“ die Wahl entscheiden (könnten), warum sind sie als Zielgruppe nicht relevant? Warum werden sie nicht gesehen? Warum werden gefühlt überall und bevorzugt 18- bis 29-Jährige angesprochen? Warum konzentrieren sich alle auf die Minderheit, die wenigen unter 30-Jährigen?
40 und älter: Das Nischendasein zwischen Sichtbarkeit, Vergreisung und Tod
Entweder sehe ich Werbung für Menschen bis maximal Anfang/Mitte 30 oder ab 65 plus – dazwischen scheint es nichts und niemanden zu geben. Was ist mit Menschen zwischen Ende 30 und Mitte 60? Sind wir eine unförmige Masse? Wie sollen wir sein? Verschwinden oder unsichtbar sein? Verkrampft lächeln? Den Vorstellungen entsprechen? Und wenn ja, welchen?
Erst dachte ich, Männern ergeht es besser, aber auch dort existiert lediglich die Auswahl zwischen „nicen Styles“, dem obligatorischen Zweisitzer der Midlife-Krise und Prostataleiden. Männer werden als „Bestager“ betitelt, graue Schläfen wirken sexy, Falten machen interessant, Frauen versinken generell und komplett in der Unsichtbarkeit. Menschen über 40 werden langsam aber sicher unsichtbar und können nur auf jung machen oder alt sein, aber alt aussehen sollen sie auch wieder nicht und alt sein auf gar keinen Fall. Das macht doch alles schlechte Laune und kaufen wird so auch niemand nichts!
Werbung vs. Altersdiskriminierung
Für die Werbung und die Algorithmen bin ich eine 54-jährige Oma, die dringend etwas gegen Falten und Inkontinenz tun muss, ein Hörgerät benötigt, ihren Rollator putzen kann und in Sacke und Asche gekleidet unsichtbar und gramgebeugt im Keller darbt und sich freuen soll, wenn vermeintliche „Enkelchen“ ab und an vorbeischauen.
Wir, die Alten, können nicht mehr arbeiten, keine Abenteuer erleben und uns auf keinen Fall neuen Herausforderungen stellen. Spaß? Never ever! Sex? Pfui! Wir können froh sein, wenn wir den Anschluss, woran auch immer, nicht verlieren. Werbung für Menschen ab 50 ist so spannend wie ein VHS-Kurs – und unpassend.
Wer schreibt diese Vorgaben? Wer macht diese Werbung? Menschen, die keine Ahnung von der Zielgruppe haben und meinen, dass ihre Welt, ihr Leben, ihr Erleben die Realität ist. Menschen über 40 oder 50 kennen sie nur aus Erzählungen – in Werbeagenturen sitzen die schon lange nicht mehr. Und oft haben sie schlicht kein Interesse und keine Lust, sich mit „alten Menschen“ und deren Leben zu beschäftigen.
Wir sind die „Alten“, denen genervt „Okay, Boomer!“ vor die Nase geknallt wird, weil unsere Zeit lange vorbei ist und wir sowieso keine Ahnung von nichts haben, aber jeglichen Mist verursacht haben. Dabei kommt dann heraus, was mir entgegenspringt: Werbung, die völlig an den Zielgruppen vorbei geht. Empathielose, desinteressierte Menschen unter 30, unter 20 vergessen, dass auch sie älter und alt werden – Ignoranz ist keine Lösung.
Wer auch dahinter steckt, sind Menschen, die mit Altersdiskriminierung richtig, richtig viel Geld verdienen. Und das geht so: Unternehmen und Agenturen suhlen sich darin, Menschen ganz bewusst Angst vorm Altern und dem Alter zu machen: Falten sind schrecklich, graue Haare noch viel mehr, Inkontinenz trifft uns alle, Altersflecken sowieso – soll ich weitermachen?
Marketing und Werbung werden ganz direkt, konkret und schonungslos darauf ausgerichtet, schon sehr junge Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Dementsprechend ist der Anti-Aging-Markt ungemein profitabel und Ageism an der Tagesordnung. Doch ist altern und älter werden wirklich nur schlimm? Und kommt es nicht auf uns alle zu? Ageism bedeutet auch, Menschen werden auf ihr Alter reduziert. Alter ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das für alle gilt, auch für Gen Z, Millenials etc. Merkt ihr selber, was das heißt, oder?
Die Macht der „Alten“: Tabu trifft Kaufkraft
Ich fühle mich aber ganz und gar nicht unsichtbar und ich sehe es auch gar nicht ein! Kaum zu glauben, ich möchte nicht noch einmal 20 oder 30 sein, wie mir die Werbung (und die Welt und die Menschen) weismachen will. Ich brauche kein Mitleid und wisst ihr was? Wir sind da und vorläufig auch nicht weg.
Im Gegenteil, wir werden immer älter und können schwerlich ignoriert werden (auch wenn das auf irgendeine Weise versucht wird). Wir haben Zeit, wir wissen, was wir wollen und was nicht – und wir sind sehr, sehr viele! Wir sind die, die das Internet erfunden haben und nutzen. Und wir tun es!
Derzeit beläuft sich das Marketingbudget, das Unternehmen in die Ansprache der meisten Menschen in Deutschland (also 50 +) investieren, auf ca. 5 bis 10 %. Auf der anderen Seite sind es genau diese „vernachlässigten“ Menschen, die etwa 50 % des Konsums, der Ausgaben bestreiten. Wir haben enorm viel Kaufkraft und bieten ein riesiges Umsatzpotential, wobei letzteres versauert, weil wir eben unsichtbar sind. Menschen, die unsichtbar gemacht werden, reagieren aber auch dementsprechend: Sie kaufen nicht. Jedenfalls nicht gerne und gezielt. Sie fühlen sich nicht verstanden, abgeholt und falsch.
Was ich möchte: Werbung, die mich anspricht. Optisch, inhaltlich und sprachlich. Und Produkte, die nicht den Eindruck erwecken, ich bin alles, nur nicht richtig. Ich muss nicht optimiert werden, um in irgendein Weltbild zu passen. Ich habe eigene Ideen, eigene Ansprüche und eigene Wünsche.
Vielleicht wird es Zeit für die Generationen über 40 zu sagen: Ich bin da! Ich bin hier! Du kannst mich „cringe“ finden, du kannst versuchen, mich zu ignorieren, du kannst mich stehen lassen, du kannst mich beschimpfen – aber ich bin da! Genau hier!
Was wir Menschen ab 40, 50 und 60 tun können? Eine Menge!
- Redet, wie ihr wollt.
- Sprecht in ganzen Sätzen!
- Seid „cringe“ und „mega“!
- Seid „oldschool“!
- Versteckt euch nicht!
- Kauft, was ihr wollt!
- Zieht an, was euch gefällt!
- Wehrt euch!
- Rebelliert!
- Seid frei!
- Seid sichtbar!
Und an Agenturen, Werbemenschen, Marketingleute und Unternehmen: Kümmert euch um eure Zielgruppen! Die über 40, die über 50, die über 60 – und zwar alle! Findet heraus, welche Wünsche, Sehnsüchte, Motive diese Menschen haben und welche Sprache sie sprechen! Differenziert! Wir sind viele, aber nicht alle gleich.
Und ja, ich bin eine von denen, die das kann und macht. Ich berate euch, ich entwickele Konzepte, Botschaften, Profile, arbeite redaktionell und texte auch!